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Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur

Zur Integration multidimensionaler und längsschnittlicher Perspektiven

AutorOlaf Groh-Samberg
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl194 Seiten
ISBN9783531914008
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis52,99 EUR
In der Arbeit wird ein innovatives Konzept zur empirischen Messung von Armut entwickelt, das sowohl zeitliche Aspekte wie den Zusammenhang von Einkommen und anderen materiellen Lebenslagen berücksichtigt. Umfangreiche Analysen zur Trendentwicklung von Armut und von Prekarität sowie zum Zusammenhang von Armut mit weitergehenden Aspekten der sozialen Ungleichheit zeigen das hohe Ausmaß der 'strukturellen Verfestigung' der Armut in Deutschland.

Olaf Groh-Samberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Längsschnittstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin.

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Leseprobe
6 Die Struktur der Armut – Zur Interaktion von Multidimensionalität und Zeitlichkeit (S. 145-146)

Im Folgenden wird es darum gehen, die Interaktionen von Einkommens- und Lebenslagenarmut in der Zeit zu analysieren. Erst eine solche kombinierte Betrachtung der Multidimensionalität und Dynamik von Armut erlaubt Aussagen über den Grad der Strukturierung oder Entstrukturierung der Armut. Ein hoher Grad der Strukturierung von Armut wäre gegeben, wenn Einkommens- und Lebenslagenarmut sich bei einer kleinen Bevölkerungsgruppe konzentrieren, also eine Minorität von dauerhaft multiplen armen Personen einer Majorität von dauerhaft und konsistent nichtarmen Personen gegenübersteht.

Ein hoher Grad der Entstrukturierung wäre umgekehrt dann gegeben, wenn Einkommens- und Lebenslagenarmut sich über einen großen Anteil der Bevölkerung in eher zufälliger Weise verteilen, das heißt, wenn ein hoher Anteil von Personen nur kurzfristig und/oder nur in inkonsistenter Weise von Einkommens- oder Lebenslagenarmut betroffen ist. Bildlich gesprochen, geht es also um die Frage, wie sich das „Gesamtvolumen" an Einkommens- und Lebenslagenarmutsepisoden auf die betrachtete Längsschnittpopulation verteilt: trifft (resp. verschont) es immer wieder dieselben Personen, oder streut es relativ gleichförmig über die gesamte Bevölkerung.

Diese bildliche Redeweise hinkt freilich insofern, als dass Armut sich gerade nicht, wie der Wohlstand, als ein Kuchen vorstellen lässt, der mehr oder minder ungleich verteilt werden kann. Mit den beiden verschiedenen Szenarien verändert sich vielmehr der soziologische Gehalt des Armutsbegriffs. Das „klassische" Armutsverständnis setzt die innere Strukturiertheit von Armut voraus. Nur als dauerhafte und multiple Benachteiligung und Deprivation entfaltet Armut ihre ausgrenzenden und die Gesellschaft spaltenden Effekte, die traditionell mit dem Armutsbegriff assoziiert werden. Kurzzeitige und inkonsistente Armut entfaltet dagegen eher Effekte der allgemeinen Verunsicherung und der Prekarisierung.

Das Szenario der Entstrukturierung zielt damit, wie die Bremer Armutsforschung herausarbeitet, auf eine individualisierte Risikogesellschaft, in der die sozialen Ungleichheiten immer weniger entlang von Gruppenzugehörigkeiten strukturiert werden. Neue „Risse" entstehen dafür entlang von Lebenslaufrisiken und entlang der sich immer stärker entkoppelnden und funktional differenzierenden Lebensbereiche. Verzeitlichung und Status- Inkonsistenzen sozialer Ungleichheit sind die Folge. Die beiden stilisierten Szenarien der Strukturierung und der Entstrukturierung arbeiten jedoch gleichermaßen mit einer dichotomen Unterscheidung von Armut und Nichtarmut, die im einen Fall das eindeutige Bild sozialer Spaltung, im anderen das „postmoderne" Bild eines Neuarrangements von Gegensätzen im individualisierten Lebenslauf erzeugt.

Demgegenüber ist gerade in einer kombinierten Betrachtung systematisch mit den Erscheinungsformen der Prekarität zu rechnen. In der Literatur zu Armut und Exklusion ist das Thema der Prekarität zunächst nur zögerlich aufgenommen worden. Bei Werner Hübinger (1996) wie auch bei Robert Castel (2000) meint die Zone des „prekären Wohlstands" oder der „Vulnerabilität" die Grauzone zwischen Armut und Wohlstand, also das prekäre Leben an der Grenze zur Armut. In den zeitdiagnostischen Beobachtungen vieler Feuilletons, und etwas überraschend auch bei Pierre Bourdieu (1998), steht die ubiquitäre „Prekarisierung" und das neue „Prekariat" dagegen eher für die soziale Entgrenzung neuer sozialer Risiken, die sich einem diffusen Prozess von Individualisierung und Globalisierung verdankt.

Das noch unklare und umstrittene Bild der Prekarität enthält also von beiden Szenarien etwas. Es steht einerseits für ein ungleichheitssoziologisch differenzierteres Bild der Armut, andererseits für ein sozialkritisch radikalisiertes Bild der individualisierten und entsicherten Risikogesellschaft. Die Strukturanalyse von Armut liefert damit einerseits Antworten zu den Fragen der zeitdiagnostischen und gesellschaftstheoretischen Interpretation der Armut, und trägt zu einer Klärung und Konkretisierung des Verhältnisses von Armut und sozialer Ungleichheit bei. Aus der Strukturanalyse von Armut heraus lässt sich zugleich ein Messkonzept bzw. ein Indikator entwickeln, der zwischen unterschiedlichen Erscheinungsformen und Abstufungen von Armut zu differenzieren erlaubt.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Vorwort6
Inhalt8
Verzeichnis der Abbildungen11
Verzeichnis der Tabellen12
Einleitung14
Teil I: Armut und soziale Ungleichheit. Grundlagen und Konzepte der Armutsberichterstattung21
1 Armutsberichterstattung zwischen Sozialpolitikberatung und Ungleichheitsforschung25
2 Multidimensionale Armutskonzepte: Ressourcen und Deprivationen52
3 Zeitlichkeit und Prekarität: Zur Kritik der dynamischen Armutsforschung85
3.1 Die Bremer Sozialhilfestudie87
3.2 Probleme der Längsschnittanalyse von Armut – aus multidimensionaler Perspektive98
3.3 Armut und Prekarität: Ungleichheitssoziologische Differenzierungen102
4 Armut und soziale Ungleichheit107
4.1 Zur Integration multidimensionaler und längsschnittlicher Perspektiven107
4.2 Wechselwirkung statt Kausalnexus: Zur Integration von Deprivations- und Lebenslagenansatz109
4.3 Zur Abgrenzung von Armut: Armut und soziale Ungleichheit111
Teil II: Zonen der Armut und der Prekarität117
5 Datenbasis und Analysesetting119
5.1 Datenbasis: Das Sozio-ökonomische Panel119
5.2 Auswahl und Operationalisierung der Indikatoren122
5.3 Entwicklung von Einkommensarmut und Lebenslagen-Deprivationen126
5.4 Kumulative Deprivation: Zur Konstruktion des Lebenslagenindikators129
6 Die Struktur der Armut – Zur Interaktion von Multidimensionalität und Zeitlichkeit141
6.1 Zum mismatch zwischen Einkommens- und Lebenslagenarmut144
6.2 Zeitlichkeit – Zur Dynamik von Einkommens- und Lebenslagenarmut146
6.3 Resümee: Zur Integration von Multidimensionalität und Zeitlichkeit156
7 Zonen der Armut und der Prekarität – Ein kombinierter Armutsindikator158
7.1 Klassifikationsverfahren159
7.2 Ein kombinierter Armutsindikator162
7.3 Typen und Zonen der Armut und der Prekarität165
8 Entstrukturierung oder Verfestigung? – Trendanalysen multipler Armut 1984-2006167
8.1 Armutsdiskurse zwischen Spaltung und Entgrenzung167
8.2 Datenaufbereitung und Operationalisierung169
8.3 Trendanalysen multipler Armut174
8.5 Zusammenfassung183
9 Europäischer Vergleich185
9.1 Datenbasis und Indikatoren185
9.2 Multiple Armut im europäischen Vergleich188
10 Zusammenfassung190
Teil III: Armut, soziale Exklusion und Klassenstruktur192
11 Klassentheorie und Klassenanalyse195
11.1 Klassenschemata196
11.2 Klassenanalyse als Kritik der meritokratischen Ideologie197
11.3 Klassentheorie201
11.4 Zusammenfassung und Ausblick: Soziale Klassen und Armut204
12 Risikogruppen und Typen der Armut207
12.1 Operationalisierungen der erklärenden Variablen207
12.2 Kerngruppen der Armut210
12.3 Trendanalysen 1984-2006222
12.4 Zusammenfassung228
13 Armut, soziale Exklusion und Klassenstrukturen231
13.1 Indikatoren sozialer Exklusion232
13.2 Armut und soziale Exklusion in vier Teilbereichen241
13.3 Armut, soziale Exklusion und Klassenlage248
14 Armut und Bildungschancen254
14.1 Armutsbetroffenheit von Kindern und Jugendlichen254
14.2 Auswirkungen und Bewältigungsstrategien von Kinderarmut257
14.3 Armut und Bildungschancen258
15 Schluss261
Anhang271
Anhang 1: Indikatoren des kombinierten Armutsindikators272
Anhang 2: Indikatoren der Trendanalysen (1984-2006)278
Anhang 3: Ergänzende Tabellen283
Literatur284

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